Wie alles begann.

Der Krieg, mit dem Deutschland Europa überzogen hatte, war nach Deutschland zurückgekommen. Das Ruhrgebiet, in dem meine Großeltern lebten, war zum bevorzugten Ziel der angloamerikanischen Bomberstaffeln geworden. Duisburg wurde in immer kürzeren Abständen bombardiert.

Aus diesem Grund wurden meine Mutter und ihr älterer Bruder mit der Kinderlandverschickung in das von Bombenangriffen verschonte Allgäu gebracht. In Beuren, einem kleinen Dorf in der Nähe von Isny im Allgäu fanden sie Aufnahme bei einer Bauernfamilie, die selbst schon zwölf eigenen Kinder hatte. Wo zwölf Mäuler satt wurden, kam es auf zwei weitere wohl nicht mehr an.

Als das Haus der Familie Conrad in Duisburg nach einem nächtlichen Bombenangriff in Schutt und Asche lag, kam meine Großmutter, noch während des Krieges, nach und fand ebenfalls bei den gastfreundlichen Bauern ein Dach über dem Kopf. Der Großvater musste in Duisburg bleiben, da er als Kohlebergmann für die Kriegswirtschaft unabkömmlich war.

Nachdem der Krieg zu Ende war, konnte auch mein Großvater ins Allgäu reisen und die Familie war wieder beisammen. Zum Glück wurde schnell ein kleines Häuschen gefunden, das die vier Conrads zur Miete beziehen konnten.

Es lag in dem kleinen Weiler Allmisried, in der Nähe des Dorfes Beuren. Idyllisch gelegen zwischen einem Badesee und zwei kleinen naturnahen Seen inmitten eines Hochmoores, den sogenannten Urseen. Das ursprüngliche Austragshaus des Bauernhofes in der Nachbarschaft, wurde noch nicht von den Altbauern benötigt und so hatten meine Großeltern und Ihre Kinder eine neue Heimat gefunden.

Im zarten Alter von gerade mal achtzehn Jahren lernte meine Mutter einen Mann kennen. Diese Beziehung hatte jedoch nur für kurze Zeit Bestand und im zweiten Monat schwanger kehrte sie in den Schoß der Familie zurück.

Am 05. Juni 1963 erblickte dann, im Krankenhaus zu Isny im Allgäu, der kleine Karle das Licht der Welt.

Doppelnamen waren damals furchtbar modern. Deshalb zieren meine Geburtsurkunde die Vornamen Klaus-Dieter (weil modern) und Karl (nach meinem Großvater) sowie der Nachname Conrad nach dem Mädchennamen meiner Mutter. Bis heute führen die vier potenziellen Vornamen zu Verwirrung, wenn ich mich vorstelle.

Von meiner Geburt nachhaltig beeindruckt, beschloss meine Mutter noch im Wochenbett den Beruf der Hebamme zu erlernen. Gesagt, getan und auf der Hebammenschule in Stuttgart angemeldet. Aber wohin mit dem kleinen Karle?

Von meiner pragmatischen Großmutter ist der Satz überliefert: „Ich habe schon zwei großgezogen, da krieg ich den einen auch noch groß.“

So kam es, dass ich bei meinen Großeltern im Allgäu aufwuchs, während meine Mutter Ihre Ausbildung zur Hebamme nicht nur erfolgreich abschloss, sondern auch in diesem Beruf Erfüllung fand und in Stuttgart und danach in Singen vielen Kindern auf die Welt half.

Leider verstarb mein Großvater sehr früh. Ich war gerade mal vier Jahre alt. Sein Wunsch mir das Angeln beizubringen blieb unerfüllt. Meine Großmutter und ich führten ein Einfaches, sehr naturverbundenes und zufriedenes Leben in Allmisried.

Kindergarten gab es nicht. Der fand auf dem Bauernhof in unmittelbarer Nachbarschaft statt. Neben den Nachbarn lebten Hunde, Katzen, Hühner, Kühe, Schweine und Pferde auf dem Hof. Nicht nur Spielgefährten sondern auch Aufgaben für den kleinen Karle. Noch heute erinnere ich mich gerne an das Hüten der Kühe und den alltäglichen Gang auf die Weide und zurück in den Stall.

Dorfschule gab es. Zurück aus der Schule war meine Großmutter über meinen angenommenen Dialekt nicht erfreut. Kuhstalldeutsch nannte sie das. Zurück in der Schule waren die anderen Kinder, von meinem Hochdeutsch, nicht erfreut. Was ein Dilemma. Bald beschloss ich beim Hochdeutsch zu bleiben, in der Hoffnung, so würde man mich überall verstehen können.

Irgendwann ist Schluss mit jedem noch so schönen Idyll. Im Alter von sieben Jahren zogen meine Großmutter und ich nach Hilzingen. Meine Mutter hatte inzwischen geheiratet und wohnte mit ihrem Mann ganz in der Nähe in Singen. Sie arbeitete am örtlichen Krankenhaus als Hebamme.

Zwischen elf und zwölf Jahren, wurden die täglichen kleinen Konflikte zwischen meiner Großmutter und mir immer größer. Auch war ein neuer Mann in das Leben meiner Großmutter getreten. Ein pensionierter Sonderschullehrer im Ruhestand. Mein ohnehin schon etwas gestörtes Verhältnis zu Lehrern versuchte er mit Geduld zu korrigieren. Der Erfolg war mittelmäßig und ich zog zu meiner Mutter und ihrem Mann.

Aus einem Paar und einen fast zwölf Jahre alten Bengel über Nacht eine homogene Familie zu formen, ist nicht einfach. Ich bewundere meine Eltern noch heute für ihre Geduld und nicht enden wollende Bereitschaft eine Familie aus uns zu machen.

Trotz der Bemühungen aller Beteiligter war auch dieses Ansinnen nicht von dauerhaftem Erfolg gekrönt. Der Freiheitsdrang des, nun nicht mehr so kleinen Karle, war nicht zu bremsen. Mit 18 Jahren, endlich volljährig, zog der Karle von zuhause aus und kam in einem kleinen möblierten Zimmer in Singen unter. Bett, Schrank, Tisch ein Stuhl und ein Kühlschrank. Waschbecken im Zimmer, Toilette und Dusche auf dem Flur zur Benutzung mit drei Mitbewohnern.

Das war kein Luxus. Es war Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben. Das war mir wichtig und es war gut für meine Entwicklung. Ich bin meinen Eltern dankbar, dass Sie das Abenteuer mit einem Zuschuss mitfinanziert haben. Nur mit meinen Lehrlingsgehalt allein, wäre der Start in ein eigenes Leben so nicht möglich gewesen. Einige Nebenjobs halfen über die Runden zu kommen. Wann ich damals geschlafen habe, weiß ich bis heute nicht.

Bevor die Lehre begann, war natürlich noch Schule angesagt. Nach der Hauptschule – mit Ach und Krach gerade mal so absolviert – kam die Fachschulreife auf einer Wirtschaftsschule dran. Mittlere Reife und danach gleich die Lehre als Einzelhandelskaufmann bei Karstadt in Singen. In dieser Zeit habe ich meine heutige Frau kennen gelernt. Was ein Glück für mich. Bis heute erkenne ich in unserer Partnerschaft den Sinn des Lebens und erfreue mich dadurch, täglich aufs Neue, am Leben selbst.

Fünfzehn Monate Wehrdienst bei den Gebirgsjägern in Sonthofen bewirkten keine Wunder, rundeten jedoch die Persönlichkeitsbildung noch ein wenig ab. Verlobung, Hochzeit und der Wunsch nach einem Kind prägen die ersten gemeinsamen Jahre.

Leider verloren wir unseren Sohn Christoph einen Tag nach der Geburt. Die Nabelschnur hatte sich während der Geburt um den Hals geschlungen und das Bübchen hat den Sauerstoffmangel leider nicht überlebt.

Beziehungen entstehen in glücklichen Momenten. Sie wachsen und festigen sich in traurigen und schwierigen Lebenssituationen. Meine Frau und ich haben viele schwierige Lebenssituationen gemeinsam gemeistert und haben es immer geschafft daran zu wachsen.

So haben wir auch den Tod unseres Sohnes verwunden, und sind heute stolze Eltern einer erwachsenen Tochter, die im Jahr 2020 ihr Studium der Rechtswissenschaften erfolgreich abgeschlossen hat.

Mein beruflicher Werdegang war immer geprägt von der Begegnung mit Menschen. Berufliche Ziele haben sich aus den jeweiligen Tätigkeiten oft ergeben, ja geradezu aufgedrängt. Erlernt habe ich den Beruf des Verkäufers, gelebt habe ich damit meine Bestimmung. Über verschiedene Stationen vom Verkäufer im Außendienst, über die Verkaufsleitung zum Geschäftsführer und Unternehmer veränderte sich diese Bestimmung immer wieder. Das ist gut so. Veränderung empfinde ich als Elixier für ein erfülltes Leben. Ohne Veränderung gibt es keine Selbstverwirklichung.

Bisher ist es mir immer gelungen konstruktiv, ideenreich und beharrlich an meiner Selbstverwirklichung zu arbeiten. Ob erfolgreich, oder nicht, kann ich nicht beantworten, da der Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist.

Wenn der Weg jedoch das Ziel ist, so war es bisher ein sehr spannender, herausfordernder und erfüllender Weg. Auf das er noch lange so interessant bleiben möge.